Eine Milliardärin auf Rachefeldzug

Dürrenmatts Klassiker «Besuch der alten Dame» zeigte am Dienstagabend nicht nur Abgründe einer Liebesbeziehung, sondern auch der Gesellschaft. Eine Theaterkritik von Luc Hardmeier.

Bild: Alfred Ill ahnt noch nicht, was kommen wird… (Foto: Selwyn Hoffmann, Bericht: Luc Hardmeier)

«Ich biete eine Milliarde dafür, wenn ihr den beliebtesten Mann des Städtchens tötet!» Die Forderung von Claire Zachanassian an die Bewohnerinnen und Bewohner des heruntergekommenen Ortes mit dem tristen Namen «Güllen» war klar und deutlich. Alfred Ill hatte sie in den Jugendjahren schwanger sitzen gelassen und vor Gericht Zeugen bestochen, um die Vaterschaft zu leugnen. Die Betrogene musste mit Schimpf und Schande Güllen verlassen, wurde zu einer Prostituierten und verlor ihr Kind. Nach 45 Jahren kehrte die alte Dame zurück. Mittlerweile als Milliardärin fordert sie grausame Gerechtigkeit für ihr erlittenes Unrecht.  Das Stück wurde 1956 uraufgeführt und in der damaligen Literaturepoche der Nachkriegszeit war die Schuldfrage ein zentrales Thema. Die Gäste im Stadttheater waren deshalb mit der Frage konfrontiert, wer eigentlich das Opfer in der Geschichte sei. Ist es Alfred Ill, auf den ein Kopfgeld für ein fieses, aber längst verjährtes Verbrechen ausgesetzt war oder ist es Claire Zachanassian, deren Leben und Psyche durch den Verrat ihres einstigen Geliebten für immer geschädigt wurden? Dürrenmatt hat das Stück als Gleichnis, eine sogenannte literarische Parabel konzipiert. Claire und Ill stehen für alle Europäer nach dem 2. Weltkrieg, die Opfer von Hitler wurden, aber teilweise auch als Mitläufer oder begeisterte Unterstützer mitmachten. Wer ist Täter, wer ist Opfer? Wer ist Schuld, dass Hitler so weit gehen konnte? Das zerrüttete Güllen steht für das zerstörte Europa nach dem Krieg. Man will vergessen, man will konsumieren. Die Moral vieler Politiker und deren Umgang mit Geld ist für Dürrenmatt mit «Gülle» zu vergleichen. Das Münchner «Ensemble Persona» hat das Stück zusammen mit dem Stadttheater sehr klassische inszeniert. Fast 1:1 wurde die Buchhandlung wiedergegeben. Es gab keine Modernisierung wie etwa in der Verfilmung von 2008, als die alte Dame mit dem Helikopter anstatt mit dem Zug in Güllen ankommt. Ein Höhepunkt der Inszenierung war sicherlich die Gemeindeversammlung über die Verurteilung von Ill zum Tode. Plötzlich sassen die Schauspielerinnen und Schauspieler inmitten des Stadttheater-Publikums. Die Verurteilung wurde nur von ihren wenigen Händen gutgeheissen. Trotzdem sprach die Gemeindepräsidentin von einem einstimmigen Mehrheitsentscheid. Jeder konnte sehen, dass es falsch war. Die groteske Situation hätte Dürrenmatt als Fan des Verfremdungseffekts sicherlich gut gefallen. Denn sie zeigte gnadenlos auf, wie moralisch falsch die Güllener handeln. Die alte Dame will keine Gerechtigkeit, sie will gnadenlose Rache und Ills Tod. Die Schuldfrage, die Gerechtigkeit, Geld und Moral sind Themen, die angesichts der der heutigen Kriege und Krisen aktueller denn je sind. Die Inszenierung war mit zweieinhalb Stunden etwas lange ausgefallen, zeigte aber wunderbar die gesellschaftskritische Tiefe des Stückes auf.

Von Luc Hardmeier. Erschienen in der Zeitung „Schaffhauser Nachrichten“ am Donnerstag, 25. September 2025.